Personalbemessung und Personalberechnung in der stationären Altenpflege

Oft liest man in Presseartikeln Aussagen wie „der Personalschlüssel liegt bei 1 Mitarbeiter für vier Bewohner“, also 1 zu 4. Dies führt natürlich zu dem Eindruck, dass es in Pflegeheimen paradiesische Zustände geben muss, wenn für vier Bewohner je eine Mitarbeiterin zur Verfügung steht. Warum also das ganze Wehklagen der Pflege? Letztendlich zeigt solch eine Verwendung des Personalschlüssels im Artikel nur, dass die Journalisten die Systematik der Personalbemessung und Personalberechnung selber nicht verstanden haben.

Ich werde mit und in diesem Text versuchen, ein wenig Licht in das Dunkel der Personalbemessung und Personalberechnung für ein Pflegeheim zu bringen.

Die Kriterien der Personalbemessung werden in den Bundesländern in Deutschland durch die Pflege-Selbstverwaltung festgelegt. Die Selbstverwaltung besteht aus Kostenträgern (Sozialhilfeträger und Pflegekassen) sowie den Leistungserbringern (BPA, Caritas, Diakonie u.a.). Diese Kriterien der Personalbemessung sind verbindlich für alle Einrichtungen, die mit den Pflegekassen abrechnen wollen.

In Hessen ist durch diese beiden Seiten zur Zeit geregelt, dass der Personalschlüssel für den Pflegegrad 2 bei 1 zu 4,05 liegt. Die Personalschlüssel der anderen Pflegegrade werden einfach errechnet, in dem diese durch feststehenden Umrechnungswerte (Äquivalenzziffer) dividiert werden . Äquivalenz bedeutet in diesem Zusammenhangdie Annahme, dass ein Mensch mit einem Pflegegrad 3 genau 1,5 mal soviel Pflegezeit benötigt wie ein Mensch mit bescheinigtem Pflegegrad 2 (Was aber so nicht stimmt. Hierzu gibt es genügend wissenschaftliche Studien, die im Internet verfügbar sind.)

Jetzt erst einmal die Äquivalenzziffern von Hessen:

  • Pflegegrad 1:  0,7
  • Pflegegrad 2:  1,0
  • Pflegegrad 3:  1,5
  • Pflegegrad 4:  1,9
  • Pflegegrad 5:  2,1

Die Personalschlüssel, mit denen dann die zu vereinbarenden Stellenzahlen errechnet werden können, lauten:

  • Pflegegrad 1 (4,05:0,70):      1 zu 5,79
  • Pflegegrad 2 (4,05:1,00):      1 zu 4,05
  • Pflegegrad 3 (4,05:1,50):      1 zu 2,70
  • Pflegegrad 4 (4,05:2,13):      1 zu 2,13
  • Pflegegrad 5 (4,05:1,93:)      1 zu 1,93

Nachfolgend nun die damit errechneten Stellen je Pflegegrad bei 100 Bewohnern. Dabei wird die Anzahl der Bewohner in einem Pflegegrad (hier immer 100) durch den jeweiligen Stellenschlüssel dividiert:

  • Pflegegrad1: 17,28 Vollzeitstellen (100:5,79)
  • Pflegegrad 2: 24,69 Vollzeitstellen (100:4,05)
  • Pflegegrad 3: 37,03 Vollzeitstellen (100:2,70)
  • Pflegegrad 4: 46,91 Vollzeitstellen (100:2,13)
  • Pflegegrad 5: 51,85 Vollzeitstellen (100:1,93)

Natürlich sind nie alle Bewohner eines Pflegeheimes in einen einzigen Pflegegrad eingestuft. Um die durchschnittlich zur Verfügung stehenden Stellen beispielhaft berechnen zu können, benutze ich die Zahlen des Statistischen Landesamtes Hessen. Danach sind ungefähr 19 % in den Pflegegrad 2 eingruppiert, 35 % in den Pflegegrad 3, 33 % in den Pflegegrad 4 und 13 % in den Pflegegrad 5.

Daraus errechnet sich eine Gesamtstellenzahl von 39,88 Stellen, die einem hessischen Pflegeheim mit 100 Bewohnern zur Erbringung aller pflegerischen Aufgaben zur Verfügung steht.

Wenn Ihnen der bisherige Text schon zu zahlenlastig vorgekommen ist, muss ich Sie warnen: Jetzt erst fängt die richtige Rechnerei an!

39,88 Vollzeitstellen (VZÄ) hört sich erst einmal gut an. Aber das sind die Stellen, wenn alle 100 Plätze immer zu 100 % belegt sind. Bei einer Auslastung von 98 % (denn kein Bewohner lebt ewig) ergeben sich 39,08 Stellen. Wenn ich nun wissen will, wieviel Zeit für Grund- und Behandlungspflege zur Verfügung steht, muss ich die Stellen abziehen, die zwar in den Stellenschlüsseln enthalten sind, aber nicht direkt in der Pflege arbeiten.

Dies sind die Stellen

  • der Pflegedienstleitung,
  • des Sozialdienstes und
  • des Aufnahmemanagements.
  • des Qualitätsmanagement,
  • der Hygienefachkraft und
  • der Ausbildungsbegleitung .

Ich will hier nicht darüber streiten, wieviel Stellenanteile tatsächlich ganz genau für diese Aufgaben benötigt werden, deshalb setze diese sehr vorsichtig an.

Von den 39,08 Stellen ziehe ich also ab:

1,0 Pflegedienstleitung

1,0 Sozialdienst

0,25 Qualitätsmanagement

0,25 Hygienefachkraft

und 0,1 Ausbildungsbegleitung (das sind 4 h pro Woche!).

Somit bleiben mir aber von den 39,08 Stellen nur noch 36,48 Stellen übrig.

Für den Nachdienst benötige ich 2 Mitarbeiterinnen jede Nacht, die jeweils 9 h arbeiten. Ebenfalls berücksichtigen muss ich, dass die Mitarbeiterinnen auch in Urlaub gehen und mal krank sind. Sie stehen somit nur 30 h in einer Vollzeitstelle zur Verfügung. Der Bedarf an Nachtwache beträgt also 9h *2 Mitarbeiterinnen je Nacht *7 Tage in der Woche= 126 Stunden. Diese 126 Stunden kann ich nur abdecken, in dem ich dem Nachtdienst 4,2 Stellen zur Verfügung stelle (126/30=4,2).

Somit verbleiben dem Tagdienst also nur noch 32,28 Vollzeitarbeitsstellen.

Eine Vollzeitarbeitsstelle erbringt laut Arbeitsvertag 40 h brutto. Anerkannt ist mittlerweile, dass alle Fehlzeiten zusammen (Urlaub, Feiertagsfrei, Arbeitsunfähigkeit, Mutterschutz, …) 25 % ergeben. Wenn man von den 40 Wochenstunden diese 25 % Fehlzeiten abzieht, verbleiben netto 30 h je Vollzeitstelle.

32,28 Vollzeitarbeitsstellen erbringen also netto in der Woche durchschnittlich 968,4 Arbeitsstunden .

Je Kalendertag sind dies (968,4/7) 138,3 Arbeitsstunden. Und wenn man diese Stunden noch auf Früh- und Spätdienst verteilt, sind dies 69,1 h je Schicht.

Sie sehen an dieser Stelle, dass für jeden Bewohner der Einrichtung noch nicht einmal eine volle Stunde im Tagdienst übrig bleibt für Pflege und Betreuung. Deswegen rechne ich jetzt die Stunden auch in Minuten um:

69,1 h je Schicht sind 4150 Minuten. Ich nehme jetzt mal an, dass die Einrichtung 3 Wohnbereiche mit jeweils 33 Plätze hat. Somit stehen jedem Wohnbereich je Schicht (4150/3) 1383,4 Minuten zur Verfügung. Und wenn ich diese Minuten auf 33 Bewohner verteile, verbleiben für jeden Bewohner in jeder Schicht im Durchschnitt 41,9 Minuten.

In diesen 41,9 Minuten je Schicht und Bewohner müssen alle anfallenden Arbeiten der Grund- und Behandlungspflege, die vollständige Pflegedokumentation und Pflegeplanung erbracht werden. Alle Angehörigenkontakte, Arztkontakte und Prüfungen durch den MDK sind darin enthalten wie auch alle Teamgespräche. Nicht zu vergessen sind auch die Medikamentenstellung und die Wundversorgung, die vom Arzt dem Pflegefachpersonal übertragen wird.

Wieviele Stellen stehen dann aber pro Schicht für einen Wohnbereich mit 33 Bewohnern zur Verfügung?

Da der Nachtdienst 9 h anwesend ist, verbleiben also noch 15 h, die abzudecken sind. Wenn ich hier Übergabezeiten und damit Überschneidungen mit einrechne, müssen noch 8 h abgedeckt werden je Schicht. 41,9 Minuten je Bewohner stehen zur Verfügung je Schicht, also insgesamt bei 33 Bewohnern 23 h. In der 5,5-Tage-Woche arbeitet jede Mitarbeiterin je Arbeitstag (40/5,5) 7,27 Stunden. 23 h stehen zur Verfügung. 23h /7,27h ergeben somit 3,16 Stellen a 7,27 Arbeitsstunden, die zur Verfügung stehen für jede Schicht. In der 5-Tage-Woche sieht die Rechnung so aus: 23h /8 h ergeben 2,875 Stellen a 8 Stunden.

In der 5,5-Tage-Woche müssen die Mitarbeiter also versetzt arbeiten, um die notwendigen 8 h Anwesenheit je Schicht abdecken zu können. In der 5-Tage-Woche stehen nicht durchgängig 3 Mitarbeiterinnen zur Verfügung.

Interessant bei dieser Betrachtung ist, dass die Pflegequalitätskriterien dem Grunde nach gleich sind, in den Ländern aber in Rahmenverträge überführt werden. Jedenfalls sind die Prüfungskriterien des MDK nicht landesspezifisch geregelt, sondern bundeseinheitlich. Warum aber sind die Personalschlüssel nicht auch bundeseinheitlich festgelegt, sondern den einzelnen Bundesländern zur Regelung überlassen?

In Hessen ist die Pflegedienstleitung im Stellenschlüssel integriert, in Rheinland-Pfalz wird sie zusätzlich zum Personalschlüssel gewährt. In Bayern und Baden-Württemberg gibt es ganz andere Personalschlüssel und Äquivalenzziffern als in Hessen, Rheinland-Pfalz und  Nordrhein-Westfalen oder anderen Bundesländern. Sehr hilfreich und informativ ist hier die Website von Herrn Michael Wipp: https://www.michael-wipp.de/fachbeitraege/pflegekennzahlen/

In der Konsequenz variieren die Stellenzahlen, die den Pflegeheimen gewährt werden,  zwischen den Bundesländern bei gleicher Anzahl von Bewohnern und der gleichen Eingruppierung in Pflegegrade erheblich: Die Stellenzahlen bezogen auf die pflegerelevanten Stellen (also nicht Hauswirtschaft und Verwaltung) liegen bundesweit in einer Einrichtung mit 100 Plätzen mehr als 10 Vollzeitstellen und damit um mehr als 20 % auseinander!

So wundert es auch nicht, dass der monatliche einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE), der für jedes Pflegeheim individuell ausgewiesen werden muss und die für die Pflege aufzuwendenden Kosten enthält, von Bundesland zu Bundesland erheblich variiert: Von minimal 421 € in Thüringen über 714 € in Hessen bis zu 1006 € in Baden-Würtemberg .  https://www.vdek.com/presse/daten/f_pflegeversicherung.html

Ebenfalls beachtenswert ist, dass die Pflegestufen und Pflegegrade im Laufe der Jahre im Durchschnitt immer geringer ausgefallen sind, da ja die Pflegegrade Grundlage der Personalmenge sind (siehe meine Erklärung ganz am Anfang des Textes

Dies bedeutete für die Pflegeheime, dass über die Jahre immer weniger Personal zur Verfügung stand. Zumindest in den Ländern, die hier keine Angleichung der Stellenschlüssel zur Bewahrung der Personalmenge vorgenommen hatten. Die aktuelle Rothgangstudie zur Personalbemessung geht davon aus, dass in allen Bundesländern noch zusätzliche Stellen zur Verfügung gestellt werden müssen, um die Pflege entsprechend der gesetzlichen Anforderungen erbringen zu können.

Für die Einrichtung in Hessen würde dies bedeuten, dass ihr grundsätzlich 55 Stellen zur Verfügung stehen müssten. Dies ist ein sattes Stellenplus von 15 Stellen und liegt somit sehr nahe an der von Rothgang benannten notwendigen Stellenerhöhung von 36 Prozent für eine deutsche Durchschnittseinrichtung. 

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es reicht derzeit in allen Bundesländern vorne und hinten nicht, wenn man alles das erfüllen soll, was in Rahmenverträgen gefordert wird. Die Bundesländer unterscheiden sich nur in der Dramatik der Personalunterdeckung.

Ich hoffe, Ihnen hiermit etwas Einblick in die Personalbemessung und Personalberechnung  in der stationären Altenpflege gegeben zu haben und damit auch eine Erklärung dafür, warum der Aufschrei aus der Pflege berechtigt ist.

Mit herzlichen Grüßen

Frank Kadereit

4 Kommentare

  1. Hallo Frankkadereit ,

    gibt es die Möglichkeit Sie für eine Entschlüsselung einer Pflegesatzvereinbarung zu chartern ?

    Das Labyrinth einer Pflegesatzvereinbarung ist mehr als brutal und verwirrend. Und Sie haben diesbezüglich wirklich den Durchblick 👑👑👑

    Gute Grüße

    Petra Vooth Cuxhaven 🌊

    Like

Hinterlasse einen Kommentar